Mittwoch, 3. September 2008

Die Idylle und der Suff


Die Jerusalemer Einkaufszeile Ben Yehudah in der Innenstadt


B"H

Mein Leben scheint sich vielleicht manchmal etwas eintönig anzuhören. Jeden Tag Religion, essen und schlafen.
Obwohl ich vorhatte, Jerusalem Ade zu sagen, hänge ich seit mehr als drei Wochen wieder hier in der Stadt fest. Der Arbeit halber, um mich auf diesem Wege verstolen zu rechtfertigen.
Außerdem versucht man mich fast ununterbrochen zu überreden, wieder zurückzukommen und diesmal Tel Aviv Ade zu sagen. Eine Entscheidung konnte ich noch gar nicht treffen, weil ich einfach zuviel zu tun habe und momentan nicht besonders viel zum Nachdenken komme. Selbst meine eingeschränkte Nachdenkphase klingt eintönig, denn die verbringe ich des abends nicht selten in der Jerusalemer Shopping Mall Ben Yehudah. Ganz einfach, weil die Mall auf meinem Heimweg liegt.

Jerusalem scheint etwas Eintöniges an sich zu haben, denn hier denken viele rustikal. Was man einmal beginnt, das führt man bis in die Unendlichkeit fort. Wenn es einem schmeckt, dann werden das Restaurant oder der Bäcker nicht gewechselt und man bleibt Kunde auf Lebenszeit. Wozu was Neues ausprobieren, wenn doch alles bisher zufriedenstellend verlief ?

Genauso denken auch die Besucher der Ben Yehudah; einer Mall, die eigentlich wenig bietet außer Souvenirläden, ein wenig Nahrung, Eis, Geldumtausch oder Kosmetik. Aber es ist das allabendliche Flair, was alles ausmacht. Auch dann, wenn es vor lauter Flair nicht viel zu tun gibt, es sei denn, man setzt sich hin und schaut die vorübergehenden Leute an.

Fast jeder Sommerabend ist gleich und pflegt seine Routine:
Die Schwarma - und Falafelbude "Moshiko" ist gerammelt voll. Ich kann mir nicht erklären warum ausgerechnet "Moshiko", denn die Preise sind mehr als unverschämt. Man gehe um die Ecke und eine Straße weiter und dort befinden sich zwei Buden mit dem gleichen Angebot. Obwohl "Ochel Be'Kef" und "Melech HaFalafel" nebeneinander stehen und eine etwaige Konkurrenz andeuten - der Besitzer ist ein und derselbe und die Preise sind auch gleich. Wer billig und gut essen will, der komme hierher und vergesse die Abzockklitsche "Moshiko".

Vor "Moshiko" postiert sich allabendlich eine Family, welche ihre illegalen Movie - DVDs verkauft. Das geht so seit einem halben Jahr und bisher ist das Finanzamt noch nicht aufgetaucht. Über fehlenden Umsatz kann sich die Familie nicht beklagen, selbst wenn der Vater cholerisch daherschreit und wie unter Koks, seltsam dahinwandelt. Egal, man verdient Geld und ist in der Lage, seinen in das Sklaventum verfallenen Kindern etwas Materielles zu bieten. Auch die Mutter hat eine neue Handtasche und an Zigaretten fehlt es nie. Soweit zur neuen Gesellschaft des "Reichtums".

Gestern abend beobachtete ich vor eben diesem neuen "Reichtum" zwei dahertorkelnde Russen. Einer gröhlte etwas auf Russisch und die herumstehenden Passanten nahmen reissaus, denn die beiden Torkelnden waren nicht gerade das, was man die "Reinheit" in Person nennt. Einer der Beiden liess sich auf den Boden fallen und der andere entschloß sich spontan gleich mit zu einem Nickerchen. Mitten in der Ben Yehudah, neben Eisdiele, Chabad und den illegalen DVDs. Der eine Russe lag auf dem anderen und von Ferne konnte man sie glatt für eine Statue halten. Moderne realistische Kunst oder so. Ein Künstler würde es auch "Installation" nennen.

So lagen beide da und die Passanten liefen drumherum. Jeder fragte sich, wann denn die Polizeistreife endlich auftauche, aber vorerst geschah nichts. Dann kamen zwei Polizeivolontäre angerauscht, liefen jedoch an den beiden schlafenden übereinandergeschichteten Russen vorbei. Ein Breslover Chassid stoppte sie und wies auf die Russen. Die Polizisten bekundeten Eile, denn einige Meter entfernt gab es Streit zwischen zwei Passanten und jemandem, der mit einer Schreibkladde herumläuft und Bestellungen aufnimmt. Er will etwas verkaufen und nervte die Passanten.
Nach kurzem Hin und Her schlug sich die Polizei auf den jungen amerikanischen Verkäufer und liess die zwei Passanten stehen. Der Breslover winkte, man solle doch jetzt endlich etwas im Falle der Besoffenen unternehmen. Aber nichts dergleichen geschah und die Polizei rannte davon. In die entgegengesetzte Richtung, denn man wollte anscheinend keinen der total verdreckten Alkis anfassen. Soll das mal die Ambulanz machen.



An dieser Ecke fand der gestrige Wahnsinn statt.

Fünf Rettungssanitäter von Magen David Adom tauchten auf und starrten auf die auf einem Haufen liegenden Betrunkenen. Einer zog sein Handy heraus und filmte die Szene. Einige Diskussionen und dann liefen auch die Sanitäter davon. Was soll man sich mit den Trunkenbolden herumärgern ?

Die Ben Yehudah machte jedenfalls keinen guten Besuchereindruck am gestrigen Abend. Es geht hier nicht um das perfekte Idyll, doch muß das menschliche Elend öffentlich herumliegen ? Vielleicht ja, damit auch alle auf die soziale Lage des Landes aufmerksam werden. Geholfen aber wird dadurch keinem. Eher wird die Forderung nach der rigorosen Räumung des Suffs aus der Fußgängerzone lauter.

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