Dienstag, 14. Februar 2012

Im gesellschaftlichen freien Fall

B”H 

Ehrlich gesagt, verspüre ich nicht immer den Drank, auf Bombenanschläge, die atomare Bedrohung aus dem Iran oder überhaupt die Politik einzugehen. Was heute gesagt wird, kann morgen in der israelischen schnelllebigen Welt schon wieder völlig irrelevant sein. Während Pro – Israel Blogger pausenlos Hasbarah (Erklärung) betreiben, steht für mich der gelebte Alltag im Vordergrund. Da bin ich zuhause, genau so wie die Mehrheit aller Israelis: "Was mache ich morgen und wie wird es auf der Arbeit ? Ist viel zu tun oder kann ich eher Feierabend machen, um den Tag noch zu geniessen ?" Momentan bin ich erkältet und daher eh froh, früher ins Bett zu kommen. 

Neulich erst unterhielt ich mich auf der Arbeit mit einem Kollegen, der vor sechs oder sieben Jahren aus der Ukraine eingewandert ist. Fast Vierzig Jahre alt und voll in der russischen Mentalität verankert, die einen nicht nach links oder rechts schauen läßt, sondern stur gerade aus. Alles Neue brauchen wir nicht und was bisher gut war, kann jetzt nicht schlecht sein. Nur russisches TV konsumieren und selbst sein Facebook ist russisch. 

Wir unterhielten uns über einen weiteren Russen, der täglich bei uns vorbei kommt, um unsere Firmenmülltonnen zu zerlegen. Flaschen, Essenreste, ggf. alte Shirts, was sich eben so findet, das sammelt der Russe ein. Mein Kollege legte bei unserer Diskussion sofort die russische Seite dar: Die israelische Regierung sei schuld an der Armut. Da werden Neueinwanderer ins Land geholt und dann abrupt fallen gelassen. So in der Art: “Ihr seit jetzt da und dann macht mal !” 

Als ich ihm entgegnete, dass jeder Einwanderer oder überhaupt jeder Bürger mehr Eigeninitiative an den Tag legen muss, wurde russischerweise alles bestritten. Anscheinend warten russische Neueinwanderer immer noch auf den Arm der Regierung, die ihnen sofort einen Job zuschustert und ihr Leben regelt. Israel aber ist kein Kolchos, sondern Kapitalismus pur. Wer nicht allein losrennt, bleibt ebenso allein auf der Strecke. 

Ganz in der Nähe meines Arbeitsplatzes befindet sich eine Art Obdachlosenunterkunft. Niemand kann sich vorstellen, wie viele Leute täglich bei uns vorsprechen und nach dem Weg dorthin fragen. Zwanzig Schekel (ca. 4,50 Euro) soll eine Übernachtung kosten. Ob es dort Essen gibt oder auch Frauen aufgenommen werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Vorwiegend ältere männliche Israelis fragen nach dem Weg zur Unterkunft. Die billigste Art, in Tel Aviv zu nächtigen, ohne sich an den Strand legen zu müssen. 

Geschiedene Männer, die zwar Familie haben, doch die Angehörigen sie nicht aufnehmen wollen. Ein ehemaliger Soldat, der an einem Trauma leidet, irgendwie seinen Verstand verlor, eine hohe Rente von der Armee bekommt, doch trotzdem ohne feste Bleibe dasteht. Alkoholiker, Junkies, Leute, die jeden Tag Mülltonnen durchforsten und so manchen Müll weiterverkaufen. Und sei es auf dem Flohmarkt in Jaffa. 

Kurz gesagt, in Israel muss jeder sehen, wie er über die Runden kommt und allein das steht im Vordergrund. Was interessiert Otto Normalverbraucher der Iran, wenn morgen nur eine Scheibe trocken Brot auf dem Teller liegt ? 


Ramsch auf dem Flohmarkt von Jaffa. Obwohl der Flohmarkt an sich ein beliebtes Touristenziel darstellt, findet sich ein Unmenge von Kitsch und Weggeworfenem.


 Photos: Miriam Woelke

2 Kommentare:

  1. @Miriam:

    Wird Israel zum 3. Welt-Land ? :/

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  2. B"H

    Viele meinen laut, dass Israel schon laengst Dritte Welt oder zumindest Bananenrepublik ist. Alles berichtet wir wild ueber den Iran und die letzten Terroranschlaege, doch auf den Strassen des Landes spielt sich die Wirklichkeit ab. Und darueber wird erst berichtet, wenn der aktuelle Armutsreport auftaucht.

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