Sonntag, 7. August 2011

Sozialforderungen ohne den Blick auf Machbares

B”H

Ohne Zweifel steht den meisten Israelis finanziell das Wasser bis zum Hals und wenn vielleicht einmal ein Lichtlein in Sicht ist, nimmt uns die Steuer alles wieder weg. Von unseren Renten und den entsprechenden privaten Rentenprogrammen (Keren Pensiya) ganz zu schweigen. Alles ist unsicher, alles liegt im Argen, doch Israelis lieben es, auf Pump zu leben. Seit mehr als 15 Jahren leben ich im Land, aber an ein Leben im Minus (Overdraft) könnte ich mich nie gewöhnen.

Gestern abend fand eine weitere Großdemo in Tel Aviv statt. 300,000 waren gekommen und die Mehrheit der Teilnehmer interessierte es nicht, dass die Demo von der extremen Linken organisiert worden war. Einer israelischen Linken, der die hohen Mieten egal sind, doch die danach strebt, die Regierung zu stürzen.

Die Mehrheit der Teilnehmer kam, weil es allen schlecht geht. Zu wenig Einkommen, zu hohe Mieten, zu hohe Lebenshaltungskosten und in den TV – Nachrichten wurde aktuell verkündet, dass ab morgen der Strompreis um weitere 9% steigt. Fast 10% ! Das ist ein Batzen fürs Portemonnaie, wobei die Grundgebühr auch schon recht happig angesetzt ist.

RTL berichtete heute abend, dass die Preise aufgrund von Netanyahus Sozialkürzungen erfolgten und damit rennt RTL in die Propaganda der Linken. Was hat Netanyahu damit zu tun, wenn die Supermarktketten MEGA oder AM:PM ihre Preise bis sonst wohin ausreizen ? Die Supermärkte sehen, dass der Kunde zahlt und so etwas nennt man Angebot und Nachfrage in einer freien Marktwirtschaft. Was hat Netanyahu damit zu tun, wenn meine Vermieterin mal wieder die Gier befällt und mit dem nächsten Mietvertrag im neuen Quartal eine höhere Miete fällig wird ? Die Regierungen, und zwar alle quer Beet von Peres, Shamir, Barak, Netanyahu, Olmert oder Sharon, haben alle nichts bewirkt und unter links sowohl als auch unter rechts ändert sich gar nichts. In meiner Zeit in Israel habe ich schon so manche Regierung mitgemacht und die einzige Partei, die auf private Sektor sozial vorgeht, ist die sephardisch – haredische (ultra – orthodoxe) SHASS Partei. Allein deswegen erhält sie von Säkuleren und Religiösen viele Stimmen, denn SHASS hilft Bedürftigen. Und das vor allem in der südlichen Peripherie. Kostenlose Kindergärten, Suppenküchen, Schulen, Freizeitangebote für Kinder und ältere Menschen. 



Gute Gegend, hohe Miete. Meine Nachbarschaft in Tel Aviv.

Photo: Miriam Woelke


Benjamin Netanyahu hört die Stimmen der Demonstranten, doch sein Blick geht auf die realistische Ausgangsbasis. Nicht jeder kann einfach so die Hand aufhalten und fordern. Israel ist zu klein, um über seine Verhältnisse zu leben und wir wollen zu keinem zweiten Griechenland oder Spanien mutieren. Jeder, der etwas von Wirtschaft versteht weiss, dass derlei Blickwinkel nicht aus den Augen verloren werden dürfen. Wohnungen fehlen, aber das Problem läßt sich nicht ratzfatz eben mal so lösen. Alles braucht seine Zeit und heute stellte Netanyahu einen neu eingerichteten Ausschuss vor, welcher die Forderungen des Volkes und der momentanen wirtschaftlichen Ausgangsposition koordinieren soll. Vorsitzender ist Manuel Trachtenberg und der hat keine leichte Stellung, denn heute krachte es an der Tel Aviver Börse. Die Kurse purzelten und sogar die erfolgsverwöhnte reiche Sheri Ariston (Bank Hapoalim) verlor an Aktienkurs. Netanyahus Devise lautet: Israel und die Finanzen stark halten und einen finanziellen Absturz verhindern. Jeder Wirtschaftwissenschaftler wird dem Premier dabei zustimmen.

Außenminister Avigdor Lieberman polterte auf andere Weise los, indem er sagte, dass die Restaurants und Cafes in Neve Zedek gestern abend gerammelt voll waren. Und das bei den Preisen ! Nicht, dass dort ältere wohlhabende Leute sitzen, sondern Tel Aviver der Altergruppen 20 – 40. Und Neve Zedek liegt nur einen Katzensprung von der Zeltdemo am Rothschild Boulevard entfernt und es würde niemanden wundern, wenn in den Cafes auch Demonstranten gesessen haben.

Liebermans Aussage mag auf den ersten Blick überzogen klingen, doch Neve Zedek ist tatsächlich täglich rappelvoll und die Angabe der Altergruppe stimmt auch.

2 Kommentare:

  1. Nun, der ganz freie Markt kümmerst sich nie um soziale Fairnis, der ganz Markt kennt nur ein Gesetz, das Gesetz des Stärkeren, Mächtigeren.
    Was über kurz oder lang dazu führt, das der einfache Bürger auf der Strecke bleibt. Abhilfe schafft nur eine soziale Marktwirtschaft, ala Deutschland, wo ein Auge des Staates die MÄchtigen im Auge behält und entsprechende Gesetze erläßt.
    Das sollte dann in Israel auch geschehen. Gegen einen freiwütenden Markt hat man sonst wenig Chancen, ausser ein Hai werden, wozu man aber schon einiges an Geld haben sollte.

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  2. B"H

    Eine richtig funktionierende SOZIALE Marktwirtschaft ist natuerlich gleichzeitig auch immer mit hohen Kosten verbunden und da ich einmal BWL studiert habe, ist mir schon klar, dass Netanyahu Recht hat. Das Land muss zuerst seine finanzielle Stabilitaet wahren und kann nicht Geld ausgeben, was nicht da ist. Andererseits bin ich selbst vom Mietwucher sowie den hohen Lebenshaltungskosten betroffen. In Deutschland, z.B., brauchte ich nie darueber nachdenken, ob ich dies oder das kaufe, denn es gibt ja ALDI. In Israel musst Du Dir vorstellen, dass fast ausschliesslich Tengelmann oder COOP Preise herrschen. Selbst in den sogenannten billigen Supermaerkten und da rechne ich schon, ob ich vielleicht doch nur eine Wurst anstatt zwei nehme. Gleichzeitig steht man vor dem Regal und fragt sich, was das eigentlich soll. Da arbeitet man wie bloed und steht hinterher da und ueberlegt sich alle moeglichen Ausreden, die zweite Wurst nicht zu kaufen, um nicht zuviel Geld auszugeben.

    Trotzdem ist an der Wurst nicht Netanyahu schuld, denn Hersteller und Supermaerkte machen mit uns Kunden, was sie wollen. Die Schuld Netanyahus besteht darin, in seiner Blase zu leben, wo er nichts vom oeffentlichen Alltag mitbekommt.

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